Der “Tiefseesimulator”

Mehrere Exemplare Bathymodiolus azoricus in den Kulturräumen des GEOMAR. Foto: Jan Steffen, GEOMAR Mehrere Exemplare Bathymodiolus azoricus in den Kulturräumen des GEOMAR. Foto: Jan Steffen, GEOMAR

Vor einigen Wochen rief mich ein Kollege an und präsentierte mir ein Thema für eine Pressemitteilung. Er versprach mir etwas ganz Besonderes: Tiefseeorganismen, die hier bei uns am GEOMAR unter künstlichen Tiefseebedingungen gehalten werden. Sofort ging meine Fantasie mit mir durch. Der »Tiefseesimulator« aus Frank Schätzings Roman »Der Schwarm« fiel mir ein. Für alle, die das Buch nicht gelesen haben: Die Hauptfigur, ein norwegischer Wissenschaftler namens Sigur Johanson, kommt merkwürdigen Vorgängen am norwegischen Kontinentalhang auf die Spur. Um seine Theorien zu überprüfen fährt er nach Kiel ans (fiktiv-reale) Geomar, um sich Versuche mit Tiefseewürmern in einem künstlichen Tiefsee-Ökosystem anzusehen.

Vieles in Schätzings Roman ist zwar gut recherchiert (unter anderem am realen Geomar) und basiert auf wissenschaftliche Fakten, doch letztendlich war sein Buch doch nur Science-Fiction. Als ich 2008 am GEOMAR anfing, musste ich als erstes lernen, dass der berühmte Tiefseesimulator eine Erfindung des Autors war. Jedes Mal, wenn ich diese Information im Rahmen von Führungen an Besuchergruppen weitergab, war eine gewisse Enttäuschung zu spüren. Und jetzt dieser Anruf. Ich war also gespannt.

Künstliche Welten im Untergeschoss

Ein paar Tage später traf ich mich mit dem Anrufer, dem Biologen Dr. Claas Hiebenthal, im GEOMAR-Gebäude am Westufer der Kieler Förde. Außerdem stieß die Doktorandin Corinna Breusing zu uns. Vom Foyer am Haupteingang stiegen wir zwei Stockwerke in die Tiefe. Dort unten befinden sich verwinkelte Korridore, von denen schwere Türen abgehen, die entfernt an Schiffs-Schotten mit eingelassenen Bullaugen erinnern. Dahinter verbergen sich jedoch keine Fracht- oder Maschinenräume, sondern Kulturkammern, in denen beispielsweise Fischlarven oder Planktonorganismen unter kontrollieren Laborbedingungen gehalten und beobachtet werden können. So kann beispielsweise unter genau definierten, wiederholbaren Voraussetzungen überprüft werden, wie bestimmte Arten von Mikroorganismen auf steigende Temperaturen oder sinkende Sauerstoffkonzentrationen reagieren. Bevor Biologen allerdings derartige Versuche starten können, müssen sie zuerst eine künstliche Umwelt schaffen, unter der sie die Organismen überhaupt halten (in der Fachsprach: hältern) können. Das ist bei Planktonarten aus dem Uferbereich der Kieler Förde noch relativ einfach. Je weiter das Original-Ökosystem jedoch entfernt und je größer der Unterschied zum Land ist , desto schwieriger wird es. Die Hälterung extrem empfindlicher Kaltwasserkorallen aus norwegischen Fjorden war bereits eine sehr große Herausforderung, die zu meistern einigen Kollegen mit viel Fingerspitzengefühl gelungen ist. Jetzt also auch Tiefsee-Organismen.

Kulturräume im Untergeschoss des GEOMAR Standort West. Foto: J. Steffen, GEOMAR

Kulturräume im Untergeschoss des GEOMAR Standort West. Foto: J. Steffen, GEOMAR

Claas öffnet eine der Türen, die in eine schmale, nur etwa drei Meter lange Kammer führt. Auf einer Laborkonsole steht ein Laptop, auf einem Wandregal reihen sich Ordner aneinander. Sonst ist der Raum leer. Auf dem Bildschirm sieht Claas sich ein paar Zahlenkolonnen an. Messwerte, die etwas darüber aussagen, wie es im eigentlichen „Tiefseesimulator“-Raum aussieht. Mittlerweile weiß ich auch, dass es sich bei den Organismen nicht wie im Roman um Würmer, sondern um Muscheln handelt. Muscheln, die normalerweise in mehreren hundert bis tausend Metern Wassertiefe an Methanquellen oder an „Schwarzen Rauchern“ leben.

Die Oasen der Tiefsee

An diesem Punkt trifft Biologie auf Geologie. Denn die Schwarzen Raucher liegen meist in der Nähe von Erdplatten-Grenzen. Durch die rissige Erdkruste dringt Meerwasser ein, sickert so tief ins Erdinnere, bis es auf mehrere hundert Grad aufgeheizt ist und durch das Gestein nach oben schießt. Wenn es den Meeresboden wieder erreicht, ist es gesättigt mit Mineralien, Gasen und allerlei anderen Stoffen, die für uns Menschen zumindest unangenehm, wenn nicht sogar extrem giftig wären. Für die Wesen der Tiefsee sind sie jedoch lebensnotwendig. Damit sind wir wieder bei der Biologie. Da bis in die Tiefen, in denen Schwarze Raucher vorkommen, keinerlei Licht vordringt, haben sich dort Ökosysteme entwickelt, die eine ganz andere Grundlage haben als die an Land. Dort unten gibt es hochspezialisierte Bakterien, die zum Beispiel Methan oder Natriumsulfid in Energie und Körpermasse umwandeln. Einige diese Bakterien leben in Symbiose mit größeren Organismen und versorgen diese mit. Dazu gehören Muscheln der Gattung Bathymodiolus, eben jene, mit denen sich Claas und seine Kollegen im Keller des GEOMAR beschäftigen. So weit, so gut. Doch alles wissen die Wissenschaftler lange nicht über diese Lebewesen. Wie verbreiten sie sich? Das ist eine der großen ungeklärten Fragen, an denen nun geforscht wird. Die Nahrungsspender der Muscheln, die Schwarzen Raucher, haben nur eine begrenzte Lebensdauer: Die meisten dieser „heißen Quellen“ versiegen nach spätestens 50 Jahren. Damit bricht die Lebensgrundlage eines ganzen Ökosystems weg. Wie finden die Muscheln oder andere Tiefsee-Tiere die nächsten Quellen, die vielleicht hunderte von Kilometern entfernt liegen? Viele Fragen rund um die Ökosysteme der Tiefsee sind ungeklärt. Die Doktorandin Corinna will im Rahmen ihrer Doktorarbeit einige dieser Fragen beantworten. Dafür musste sie die Tiefsee ins Labor holen. „In der Tiefsee kann ich das nicht beobachten, dazu ist der technische Aufwand schon für einen einzelnen Tauchgang zu einem Schwarze Raucher viel zu groß“, sagt die Biologin.

Wertvolle Proben aus der Tiefsee

Die Muscheln, die sie für ihren Versuch benötigte, holte der französische Tauchroboter VICTOR 6000 (übrigens auch bekannt aus „Der Schwarm“) im Sommer 2013 aus knapp 900 Metern Tiefe vor den Azoren an die Oberfläche. Per Flugzeug traten sie ihre Reise nach Kiel ans GEOMAR an.
Seitdem arbeitet Corinna hier daran, den empfindlichen und auch kostbaren Tieren eine neue Heimat am zu schaffen. Dabei hilft ihr Claas, der seit 2013 das Kiel Marine Organism Culture Center (KIMOCC) leitet. Das KIMOCC ist eine Kooperation des GEOMAR mit dem Kieler Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“ und soll Wissenschaftler bei der komplizierten Hälterung von Tiefseeorganismen helfen. Corinna ist seine erste „Kundin“.

Mittlerweile ist Claas mit der Kontrolle der Werte auf dem Laptop fertig und er öffnet das “Schott” zu einem Nachbarraum. Dahinter soll sich also endlich der eigentliche „Tiefseesimulator“ verbergen. Das erste, was auffällt, ist der Gestank. Nicht atemberaubend, aber mehr als deutlich umfängt uns ein Geruch von faulen Eiern. Dann schaltet Claas das Licht an. Zunächst macht sich ein wenig Enttäuschung breit. Der Raum ist nicht viel größer als die Vorkammer und sieht recht unspektakulär aus. Auf einem soliden Kunststoffgestell links stehen mehrere Aquarien, darin dunkelbraune Muscheln, die entfernt an Miesmuscheln erinnern. Rechts wieder ein Konsoltisch, auf dem in Gläsern weitere Exemplare zu sehen sind. Ein paar Schläuche und eine Gasflasche komplettieren die Ausstattung. Das Auffälligste bleibt der Geruch. „Das ist die Nahrung der Muscheln“, erklärt Claas.

Dr. Claas Hiebenthal, Leiter des Kiel Marine Organism Culture Center (KIMOCC), in einem Kulturraum am GEOMAR Standort West mit Tiefsee-Muscheln der Art Bathymodiolus azoricus. Foto: Jan Steffen, GEOMAR

Dr. Claas Hiebenthal, Leiter des Kiel Marine Organism Culture Center (KIMOCC), in einem Kulturraum am GEOMAR Standort West mit Tiefsee-Muscheln der Art Bathymodiolus azoricus. Foto: Jan Steffen, GEOMAR

Denn um die Muscheln und ihre Symbionten ausreichend mit dem für sie lebenswichtigen Schwefelwasserstoff und Methan zu versorgen, haben die Forscher eine kontinuierliche „Fütterung“ mit Natriumsulfid und einem Luft-Methangemisch installiert. Und wenn Claas so erzählt, auf die Details der Technik eingeht, das langsame Herantasten an die richtigen Atmosphärenwerte erläutert, dann wird klar, warum dieser Kulturraum trotz der einfachen Optik eine kleine Sensation ist. Schließlich ist das GEOMAR jetzt neben dem Oregon Institute of Marine Biology und der Universität der Azoren weltweit die einzige Einrichtung, die es überhaupt geschafft hat, Bathymodiolus-Muscheln erfolgreich in Kultur zu halten. „Wenn wir etwas falsch gemacht und die Muscheln verloren hätten, hätte es vielleicht erst in ein oder zwei Jahren wieder einen Gelegenheit gegeben, mit einem Tauchroboter neue Muscheln zu sammeln“, sagt Corinna.

Corinna Breusing, Doktorandin in der HOSST-Graduiertenschule, bei Versuchen mit Tiefseemuscheln der Art Bathymodiolus azoricus im Kiel Marine Organism Culture Center (KIMOCC) am GEOMAR Standort West.. Foto: Jan Steffen, GEOMAR

Corinna Breusing, Doktorandin in der HOSST-Graduiertenschule, bei Versuchen mit Tiefseemuscheln der Art Bathymodiolus azoricus im Kiel Marine Organism Culture Center (KIMOCC) am GEOMAR Standort West.. Foto: Jan Steffen, GEOMAR

 Sicherheit nicht vergessen

Ganz nebenbei mussten die beiden sich nicht nur um den Schutz der Muscheln kümmern. „Da sowohl Schwefelwasserstoff als auch Methan in entsprechenden Konzentrationen giftig und brennbar sind, mussten wir auch Sicherheitsaspekte für die Wissenschaftler bedenken“, erklärt Claas. Nur einen Umweltaspekt der Tiefsee konnten sie glücklicherweise außer Acht lassen: Die Muscheln gedeihen auch unter Normal-Druck. „Wir benötigen also keine Druckkammer, um die 90 Atmosphären Druck in ihrem natürlichen Lebensraum zu simulieren“, sagt Corinna.

Mittlerweile arbeitet das System zuverlässig, die Muscheln haben sich eingelebt und fühlen sich sichtlich wohl in den Becken. Einen ersten großen Erfolg konnten die zwei Wissenschaftler bereits verbuchen: Die ersten Muscheln haben tatsächlich abgelaicht. Corinna ist begeistert: „Das ist bei dieser Art vorher noch niemandem gelungen.“ Jetzt will sie versuchen, die Larven der Tiere großzuziehen, um Schwimmverhalten und Temperaturtoleranzen zu bestimmen. „Dann können wir in Computermodellen die Verdriftung von Larven im Ozean nachvollziehen.“ Das könnte einen Teil der Geheimnisse der Tiefsee lüften.

Wir drücken Corinna und Claas die Daumen – und informieren natürlich über weitere Schritte. Eines hat dieser kurze Besuch auf jeden Fall gezeigt – auch hinter scheinbar einfachen Konstruktionen können sich Sensationen verbergen. Der echte „Tiefseesimulator“ im GEOMAR-Keller ist optisch vielleicht nicht so spektakulär wie der fiktive im Schätzing-Roman. Aber für die reale Wissenschaft bedeutet er einen großen Fortschritt.