Die perfekte Illusion

Sind meine Augen offen oder geschlossen? Eine tiefe, schwere undurchdringliche Dunkelheit umgibt mich, die es unmöglich macht diese Frage zu beantworten. Ich versuche mich zu bewegen, aber meine Anstrengungen führen ins Nichts und ich gebe auf. Ich treibe dahin und weiß nicht ob ich dieser vollkommenen Finsternis entkommen kann. Sehr weit entfernt sehe ich plötzlich ein schwaches Licht. Offenbar sind meine Augen geöffnet. In dieser Schwärze kann ich zunächst nicht mit Gewissheit sagen, ob das wozu das Licht gehört winzig und ganz nah oder unglaublich riesig und sehr weit weg ist.

War das kleine Leuchten zunächst noch schwach, so wächst es nun heran, wird kräftiger und behauptet sich gegen die Dunkelheit. Es kommt auf mich zu und ich stelle mit Erleichterung fest, dass das Licht nicht zu einem gigantischen Ungeheuer gehört. Ich meine eine Regelmäßigkeit in der Bewegung des Lichts auszumachen. Es bewegt sich stetig von rechts nach links, obwohl es natürlich auch oben und unten oder diagonal sein könnte. Dann sehe ich wozu es gehört: Zunächst nur einen schattenhaften Umriss, dann einen länglichen Fischschwanz, der sich aus dem Dunkel abzeichnet. Am Ende des Fischschwanzes sitzt das kleine Licht und hüpft mit der Schwimmbewegung des alienhaften Wesens auf und ab. Rasch verdickt sich der Fischschwanz und endet in einem Kopf mit einem gigantischen Maul. Ich habe keine Angst. Es kommt meinem Gesicht ganz nahe, doch als ich meine Hand heben will, um es zu berühren, hat die Dunkelheit es verschluckt.

Ich bin wieder allein. In dem schwarzen Nichts vor mir zeichnet sich langsam etwas ab. Eckige Formen, schemenhafte Umrisse. Das Schwarz weicht einem helleren Blau. Tauche ich auf? Nein, ich kann nach wie vor kein Ende der Dunkelheit erkennen. Was kommt dort auf mich zu? Ein bis heute unentdecktes Wesen der Tiefsee? Ein schauriges Ungeheuer? Ein geheimnisvolles U-Boot? Ich bekomme eine Gänsehaut und möchte wegschauen, doch meine Neugier zwingt mich die Augen weit zu öffnen und genauer hinzusehen. Die Umrisse nehmen langsam Formen an, die mir bekannt vorkommen. Es ist eine Schrift, die sich jetzt klar von der Dunkelheit abzeichnet und ich lese: „Superhelden der Tiefsee“.

Von sehr weit weg sagt eine Stimme: „Der Film hat wieder von vorne begonnen. Sie können die Brille jetzt abnehmen.“ Ich greife hinter meinen Kopf und ziehe mir die VR-Brille vom Gesicht. Ich sitze auf einem gut gepolsterten Drehstuhl. „Bitte stehen sie auf, damit die nächsten sich den Film ansehen können“, sagt die Stimme von vorhin und drückt mir zum Abschied ein Papier in die Hand.

Ich halte es vor meine Augen und lese: „Superhelden der Tiefsee“ Ein 360° 3D-Film von der Fachhochschule Kiel, entstanden in Zusammenarbeit mit dem GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Warum müssen Forschungseinrichtungen so lange Namen haben denke ich und lese weiter: „Jetzt im Mediendom der FH Kiel und in vielen weiteren 360° Kuppeln Deutschlands. Tauchen Sie mit der augenlosen Krabbe, dem Pelikanaal und dem Observatorfisch in die Tiefen des Ozeans ab.“

Ich kratze mich am Kopf, drehe mich um und sehe die anderen Besucher, die mit einem taucherbrillengleichen Gerät vor ihren Augen völlig versunken auf ihrem Drehstuhl sitzen. Sie sind genauso abgetaucht wie ich. Toll was mit der heutigen Technik möglich ist.

Sirin Schulz

Auch mein Kollege Gerd ist mit den Superhelden der Tiefsee virtuell in die Dunkelheit des Ozeans abgetaucht.