Die Illusion von Neutralität in der Wissenschaft

Am 24. September fand ein deutschlandweiter Klimastreik statt, anlässlich der anstehenden Bundestagswahl. Im Rahmen des Streiks und der Wahl, wurde in wissenschaftlichen Kreisen intensiv diskutiert, inwieweit man sich denn nun thematisch politisch positionieren dürfe.
Die Wahl war entscheidend. Sie würde bestimmen, welche Parteien die letzte Entscheidungsgewalt bekämen, noch Maßnahmen zu ergreifen, die zumindest Deutschlands Anteil am Einhalten der im Pariser Klimaabkommen beschlossenen Höchstgrenze von 1,5 Grad Erderwärmung sicherstellen könnten. Wohlgemerkt: Hier ging es nicht um das Empfehlen einer Partei. Es ging allein darum, wie eindeutig man zum menschgemachten Klimawandel und zur Notwendigkeit von konsequenten Änderungsmaßnahmen sprechen dürfe. Viele Institute, viele Wissenschaftler*innen entschieden daraufhin, sich mit einer Positionierung zurückzuhalten.

Wissenschaftliche Standards als Lebenseinstellung

Das wissenschaftliche Arbeiten ist bestimmt von dem Gedanken an Neutralität. Möglichst unbeeinflusst, möglichst unvoreingenommen soll die Wissenschaftler*in sein. Unbiased, würde man im Englischen sagen. Mit einer Art reinen Neugierde sollen Forschende an ihre Fragestellungen herangehen. Mögliche Einflussfaktoren durch eigene Erwartungen und Voreingenommenheit von vornherein ausschließen. Und für das wissenschaftliche Arbeiten, bei dem es auf Präzision und Korrektheit ankommt, ist das auch mehr als richtig.
Es überrascht wohl nicht, dass sich das Credo irgendwann auf die eigene Einstellung auswirkt. So sehr, dass einige Wissenschaftler*innen der Überzeugung sind: „Wenn ich den Menschen, so wie zum Beispiel Politiker*innen oder der Gesellschaft, meine Ergebnisse zur Verfügung stelle, dann müssen die entscheiden, was sie daraus machen.“ Fast so, als würde man als Wissenschaftler*in in diesem System eine unbeteiligte Rolle spielen. Die Wissensbeschaffer*in, die Daten liefert, aber diese nicht in den Kontext stellen muss und auch keinen eigenen Wertekodex besitzt. Als gäbe es im Rahmen des eigenen Berufs ein neutrales Verhalten, bei dem man sich auf eine völlig meinungsfreie, wertefreie, emotionsfreie Meta-Ebene zurückziehen könne.

Menschen sind verschieden. Viele Wissenschaftler*innen positionieren sich sehr wohl; siehe Scientists for Future. Und wenn nicht, ist das auf der einen Seite auch ihre freie Entscheidung. Aber jetzt kommen wir zum problematischen Teil dieses Verhaltens, also der anderen Seite: Neutralität gibt es im Leben nicht. Menschen sind immer vorgeprägt und Wissenschaft ist immer auch ethisch.
Unsere Entscheidungen, also auch die Entscheidungen, etwas zu unterlassen, beeinflussen andere. Wenn wir uns also entscheiden, zu schweigen und uns zurückhalten, begünstigen wir damit im Zweifelsfall andere, nicht unbedingt richtigere Stimmen. Oder lassen zu, dass uninformiertere Personen dann eben auf diese Stimmen hören. Oder entziehen uns einer besonders dringlichen und wegweisenden aktuellen Diskussion und geben Verantwortung ab, während wir uns selber den Eindruck erhalten, „nur“ neutral sein zu wollen; in einer Welt, die allerdings niemals neutral ist.

Wissenschaft und Ethik – eine Gratwanderung

Ich bin als Ärzt*in bei einem Notfall verpflichtet zu helfen, anstatt nur ein Buch über die menschliche Anatomie neben die betroffene Person zu legen. Bin ich dann nicht als Wissenschaftler*in auch verpflichtet, mein Wissen auch für andere Menschen in den aktuellen Kenntnisstand einzuordnen und ein verständliches Fazit daraus zu formulieren, anstatt nur meine Daten in den leeren Raum zu stellen?
Im Klartext: Wenn ich weiß, mit allen Ergebnissen und Erkenntnissen, die mir vorliegen, dass der menschgemachte Klimawandel real und schädlich ist, er diesen Planeten für eine große Zahl an Lebewesen unangenehm bis unbewohnbar macht und er außerdem, wenn von Industrie und Politik so weitergemacht wird, wie bisher, bald nicht mehr aufzuhalten sein wird, habe ich dann nicht sogar eine moralische Verantwortung, dies klipp und klar zu sagen?

Es gibt verschiedene Facetten zu diesem Gedanken. Mein Kollege aus Projekt CUSCO erwidert auf meine Frage, warum sich viele Wissenschaftler*innen auf eine vermeintliche Neutralität zurückziehen, dass man als Wissenschaftler*in, wenn man sich zu weit aus dem Fenster lehnt, auch diskreditiert werden kann. Als dramatische Gegenposition genutzt. Weil ein solches mediales Szenario Klicks generiert, Reichweite und Aufmerksamkeit. Und, dass es daher vielleicht nicht immer so einfach ist, mit den Statements.
Und natürlich, dass man ja auch von Studienbeginn an gelehrt bekommt, dass nur ein*e neutrale*r Wissenschaftler*in ein*e gute Wissenschaftler*in ist. Das wird im Laufe des gesamten wissenschaftlichen Lebens als oberstes Ziel angestrebt, so dass es später schwieriger wird, sich mit starken Positionen wohl zu fühlen. Oder die Gratwanderung zwischen privaten und beruflichen Äußerungen auszuhalten. Weil sie natürlich nicht immer eindeutig ist.

Naja, und es ist eben auch einfacher, seine Hände sozusagen in neutraler Unschuld zu waschen – etwas provokant gesagt. Aber wenn ich mich selbst nur als Wissensbeschaffer*in sehe, fühle ich mich für die Konsequenzen meiner Forschung, aber auch meiner Nicht-Aussagen, letztlich nicht selbst verantwortlich. Hat ja dann “die Gesellschaft” so gewollt. Auch, wenn die Gesellschaft vielleicht gar nicht meinen Hintergrund und Überblick hat, um das Ganze sinnvoll einschätzen zu können. Auch, wenn die Gesellschaft über das Pariser Klimaabkommen bereits entschieden hat, dass den Maßnahmen gegen den Klimawandel höchste Priorität zukommen soll. Auch, wenn ich als Wissenschaftler*in ja selber Teil der Gesellschaft, mitsamt der damit einhergehenden Verantwortung bin. Und außerdem die Gesellschaft und ihre Repräsentanz aus lauter Individuen mit ausgeprägten Einzelinteressen besteht, die vielleicht gar nicht die beste Entwicklung für alle im Sinn haben. Womit wir wieder bei einer ethischen Verantwortung der Wissenschaft wären.

Plädoyer für mehr Mut zur Klarheit

Natürlich ist es ein Unterschied, ob ich privat eine bestimmte Partei wähle oder ob ich gerade beruflich vor der Kamera stehe und über meine Ergebnisse spreche. Aber genau diese Trennung kann ich ja auch machen. Muss ich sogar machen.
Und wenn die einschlägige wissenschaftliche Erkenntnis ist, dass sofort Maßnahmen ergriffen werden müssen und konsequent gehandelt werden muss, weil ansonsten Kipppunkte kippen, die nicht mehr zurückgekippt werden können, und dass der Klimawandel andere Themen, so wichtig sie auch sind, trotzdem ganz schön in den Schatten stellt, dann kann, darf und muss ich genau diese Erkenntnis auch öffentlich darstellen, als Wissenschaftler*in, als Institut. Weil sich andere an der Wissenschaft orientieren können müssen; und dazu nun mal fundierte Aussagen nötig sind. Und weil ein Verschweigen dieser Klarheit, die in einem überwältigenden Konsens von über 97 % der Klimawissenschaftler*innen mit diversen Studien gestützt wird, doch eigentlich überhaupt erst eine wahrhaft emotional- und wertebeeinflusste Positionierung darstellen würde. 

Wissenschaftliches Arbeiten ist nicht politisch, Wissenschaftler*innen schon – und dürfen es auch sein. Als Wissenschaftler*in sammle ich nicht einfach nur neutral Daten; ich lasse Erkenntnisse und ihre Relevanz für unsere Welt, greifbar und sichtbar werden. Und spätestens ab da ist es auch Teil meiner Verantwortung, dieses Wissen in einen Kontext zu stellen. Als Institut habe ich diese Verantwortung noch einmal mehr. Solange ich private Parteiempfehlungen von wissenschaftlich begründeten Aussagen trenne, ist das doch okay. Letztlich ist eine Einordnung wissenschaftlicher Erkenntnisse in einer politischen Welt irgendwie auch mein wissenschaftlicher Auftrag. Selbst wenn es sich erst einmal herausfordernd anfühlen mag.


Autorin: Ann Kristin Montano

Ehemalige Wissenschaftlerin, die lange genug in anderen Bereichen gearbeitet hat, um Klischees über Wissenschaftler*innen aufzubauen. Arbeitet jetzt gern unter Wissenschaftler*innen, um die Klischees wieder abzubauen. Begrüßt andere Meinungen dazu, wie sehr oder wie öffentlich Menschen in der Wissenschaft Positionen vertreten sollten.

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