Werde nie-niemals erwachsen!

“Even though you want to try to, never grow up”
J.M. Barrie, Peter Pan

Peter Pan ist der Junge, der nie erwachsen wird. Er lebt auf der Insel Nimmerland mit seinen „verlorenen Jungs“. Jeden Tag erlebt er Abenteuer, umgeben von Indianern, Piraten, Meerjungfrauen und Feen. Er ist verträumt, verspielt, neugierig. Manchmal mag er sich nicht an Regeln halten. Er ist ein Kind – eines, das Kind bleibt.

Nur eine Geschichte, hätte ich vor Kurzem gesagt. Wir alle werden erwachsen. Müssen erwachsen werden. Nimmerland verlassen, einen Job annehmen – und dann hört das auf, mit den Träumen und den Fantasien, mit der Verspieltheit und der Neugier, mit den Regelbrüchen. Vielleicht nach Feierabend. Aber nicht zu viel. Nicht zu doll. Vielleicht morgen.

Was mir niemand erzählt hat: Die Geschichte geht weiter. Peter Pan studiert, und zwar Ozeanwissenschaften. Er macht sein Diplom oder seinen Master, dann seinen Doktor und auch danach noch bleibt er in der Wissenschaft. Er fährt mit Schiffen um die ganze Welt und erforscht verschiedene Meeresgebiete. Und selbst als Peter Pan schon lange Professor ist, mit vielen wissenschaftlichen Publikationen, ist er immer noch – ganz tief in sich drin und doch auch so offensichtlich – der Junge, der nie erwachsen wird. Gleiches gilt für seine Schwester Mary Pan.

Ich suche das Gespräch mit Menschen aus den Ozeanwissenschaften, genauer aus den Projekten CUSCO, EVAR und REEBUS, um dem Gedanken auf den Grund zu gehen. Ist ein herausragendes Merkmal der Forschung, dass sich Wissenschaftler*innen kindliche Züge oder Verhaltensweisen bewahren? Ist Wissenschaft, vor allem Ozeanwissenschaft, gar kein Elfenbeinturm, wie so oft vermutet, sondern ein vielfältiges Nimmerland, mit abenteuerlichen Forschungsexpeditionen (viele tatsächlich per Schiff)? Findet der ewige Kampf gar nicht gegen Piraten, sondern gegen Deadlines, Datenauswertungen und Schreibblockaden statt?

Kurz: Werden Wissenschaftler*innen nie erwachsen?

Es ist schon so, dass mir im Umgang mit meinen Kolleg*innen Einzelheiten auffallen, die an anderen Arbeitsplätzen nicht oder zumindest deutlich weniger auftreten. Wie viel in den Pausen herumgealbert wird. Wie viele von ihnen noch zusammen in Wohngemeinschaften leben. Wie sehr die Kollegschaften nach der Arbeit auch die Freundschaften sind. Die ausgeprägtere Bereitschaft, sich über kleine Regeln hinwegzusetzen. Alles ständig zu hinterfragen.

Insgesamt, in so vielen Momenten, wirken die Menschen um mich herum in ihrem Verhalten deutlich jünger, als ich das für ihr Alter erwarten würde. Und doch sind sie nicht kindisch. Es ist etwas anderes. Eher so, als würde etwas Studentisches in ihnen verbleiben. Und damit die Neugier, die Verspieltheit und der Wissensdrang, die mit dem Studierenden-Dasein einhergehen.

Im Gespräch mit den Ozeanwissenschaftler*innen, die ich befrage, kristallisieren sich vor allem zwei Dinge heraus:

1.: Alle wissen sofort, wovon ich spreche.

2.: Forschung selektiert. Und zwar stark. Sie selektiert die Menschen, die im knallharten Wissenschaftssystem weitermachen. Ein hoch kompetitives Feld – das oberste Ziel ist, viele wissenschaftliche Publikationen zu veröffentlichen. Verträge sind nahezu ausschließlich befristet. Mehrmalige Umzüge, im Zweifelsfall auch mit der Familie, sind kaum zu umgehen. Lange Zeiten der Abwesenheit zwecks Forschungsexpeditionen wechseln sich ab mit langen Zeiten vor dem Rechner. Wer freitags früher nach Hause will, arbeitet oft am Wochenende nach. Ein System also, in dem man nur verbleiben kann, wenn der Wissensdrang alles andere überwiegt. Wenn die Neugier, der innere Wunsch, zu erforschen, eine Beharrlichkeit zur Folge hat, die einen weitergehen lässt – no matter what. Wenn das Entdecken von Neuem, also letztlich das Erleben von Abenteuern, einem so viel bedeutet, dass andere Bedürfnisse dahinter zurückbleiben.

Und hier kommt nun also das vermeintlich Kindliche, das Peter-Panige, ins Spiel. Das, was mir von außen als Junggeblieben erscheint. In Wahrheit sind es Charakterzüge, die absolut notwendig sind, damit Menschen überhaupt dauerhaft Wissenschaft betreiben wollen und können. Die gepaart sind, mit Durchhaltevermögen und Ernsthaftigkeit. Daher sind es auch die Charakterzüge, die in meinem Umfeld so auffallend oft auftreten. Andere Menschen gehen nämlich gar nicht erst in das Nimmerland Wissenschaft oder haben dieses bereits früh verlassen, weil sie nicht ewig in dem System weitermachen wollen. Oder weil für sie das Interesse die aufzehrenden Seiten der Wissenschaft nicht aufwiegt.

Kindsein und Erwachsensein sind Begriffe, die zu Wissenschaftler*innen nicht passen. Getrieben von Neugier und Wissensdurst, aber auch das Anpassen an herausfordernde Lebensumstände – DAS sind die Eigenschaften, die dazu führen, dass jemand Wissenschaftler*in wird. Abenteuer klingen zwar toll, eine Sicherheit geben sie aber nicht. Auch deshalb muss Peter Pan ewig ein Kind bleiben. Nur dann lässt sich die ständige Unsicherheit und Überraschung im Nimmerland um ihn herum aushalten. Schöngefärbt, als sei alles nur ein kindliches Spiel.

Und das ist auch der Grund, warum ein Peter oder eine Mary Pan in jede*r Forscher*in stecken muss. In einem Nimmerland wie den Ozeanwissenschaften, kann man sonst nicht dauerhaft sein. Das bedingt das System. Und selbst unter den Wissenschaftler*innen, die den Weg weiter gehen, die jetzt gerade in den Universitäten und an Instituten arbeiten, gibt es Bestrebungen, genau diese schwierige, instabile Situation zu verändern. Denn bei allen peter- und mary-panigen Charaktereigenschaften, die ihnen eigen sein mögen. Bei aller Neugier und allem vorantreibenden Interesse, die die Wissenschaft ja auch so exzellent machen. Letztlich steckt in jeder Wissenschaftler*in zu gewissen Teilen auch eine erwachsene Wendy und damit ein leiser Wunsch nach etwas mehr Beständigkeit.


Autorin: Ann Kristin Montano

Ehemalige Wissenschaftlerin, die lange genug in anderen Bereichen gearbeitet hat, um Klischees über Wissenschaftler*innen aufzubauen. Arbeitet jetzt gern unter Wissenschaftler*innen, um die Klischees wieder abzubauen. Hatte ein bisschen Angst, dass ihre Kollegen beleidigt sein könnten, als sie sie nach ihren Ansichten zu diesem Thema befragte. Es stellte sich schnell heraus, dass alle lachen mussten.

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