Was hat eine Nudel mit Ozeanforschung zu tun?

Seit September 2020 bin ich am Institut GEOMAR in Kiel angestellt, um für drei Projekte der Ozeanforschung, EVAR, REEBUS und CUSCO die Öffentlichkeitsarbeit aufzubauen. Das erste Projekt ist vornehmlich beim Institut für Ostseeforschung Warnemünde angesiedelt, die letzten beiden vornehmlich beim GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Meeresforschung Kiel. Vor Arbeitsbeginn hatte ich das ein oder andere Vorurteil über Menschen in der Wissenschaft im Kopf. Doch seit Stellenantritt ändert sich meine Sichtweise auf Wissenschaft und Wissenschaftler*innen mehr und mehr.

An einem meiner ersten Arbeitstage saß ich mit meinen neuen Kolleg*innen vom GEOMAR am Mittagstisch. Da fiel mir überraschend auf: Wurde eben noch über die Datenlage zu ozeanischen Forschungsexperimenten gestritten, war plötzlich eine viel wichtigere Fragestellung Kern der heißen Diskussion – die Frage nach der richtigen Nudel.

Die richtige Nudel? Ich war entgeistert. Gibt es tatsächlich „richtigere“ Nudeln? Habe ich bisher völlig uninformiert einfach zum nächstbesten Hartweizenprodukt gegriffen? Und wie spannend, dass die Ozean-Forschenden in meinem Umfeld genau so intensiv von dieser mir unwichtig erscheinenden Alltagsfrage gepackt wurden, wie von ihren wissenschaftlichen Themen. Mein Interesse an dem, was Ozeanforschung, Nudeln und die menschliche Verbindung dazwischen ausmacht, war geweckt!

Erst einmal: Was bedeutet Ozeanforschung? Aufgabe des Instituts GEOMAR ist die Untersuchung der chemischen, physikalischen, biologischen und geologischen Prozesse im Ozean. Vor allem wird die Wechselwirkung dieser Prozesse mit dem Meeresboden und der Atmosphäre erforscht. Das Institut für Ostseeforschung widmet sich hauptsächlich der interdisziplinären Meeresforschung in Küsten- und Randmeeren.

Zusammenfassend gesagt: Von kleinsten chemischen Stoffen bis hin zu großen Tieren, von Meeresboden und Tiefsee bis in die oberste Wasserschicht, von Einzelaspekten bis zu großen zusammenhängenden Verbindungen – all das wird in der Ozeanforschung untersucht. Letztlich dient das gewonnene Wissen unseren Erkenntnissen zur Klimakrise und der Rolle, die der Ozean darin spielt oder spielen wird.

Und nun zurück zum Mittagstisch. Warum wurde hier überhaupt so intensiv diskutiert? „Macht man doch sonst auch nicht“, dachte ich. „Kann nicht jede*r die eigenen Daten selbst auswerten, irgendeine Nudelsorte kaufen und basta?“
Doch ich lernte schnell: Wissenschaft besteht aus dem Vorantreiben von Ideen, dem Hinterfragen und Interpretieren von Daten, dem regelmäßigen Austausch mit anderen Forschenden des Fachbereichs. Der wissenschaftliche Diskurs ist die Grundlage für eine gut vernetzte und exzellente Forschung. Und da meine Kolleg*innen in der Ozeanforschung mit Leib und Seele Wissenschaftler*innen sind und diesen Diskurs leben und lieben, hört er weder in der Mittagspause noch nach Schluss der Forschungsthemen auf.

 Ich hatte vor Stellenbeginn ein Klischee von Menschen in der Wissenschaft in meinem Kopf gehabt – sachliche Personen, in ihrer eigenen Datenwelt lebend, ohne Verbindung zur Realität. Und nun war, vielleicht auf eine unerwartete Art und Weise, das genaue Gegenteil der Fall. Sobald geklärt war, ob und wie bestimmte Datenpunkte des Experiments mit einbezogen werden sollten, ging es um genau diese Alltagsfragen. Um die Suche nach Wohnungen, um das gemeinsame Ausgehen (wenn es Corona erlaubt) oder um die bereits erwähnte Frage nach der richtigen Nudel. Und diese Frage, welche Nudel es nun am besten zu essen galt und wieso, die wurde genau so ernst genommen, genau so kritisch hinterfragt und besprochen wie die ozeanischen Forschungsdaten zuvor. Mir wurde in dieser Situation klar: Gute Forschung scheint nicht nur mit guten Daten zu tun zu haben. Da gibt es noch einen weiteren Zusammenhang – einen menschlichen. Wissenschaft wirkt anscheinend als sozialer Klebstoff und scheint ihn auch zu brauchen.

War dieser soziale Aspekt ein Teil der täglichen Motivation? Ich versuchte zu begreifen, was junge Wissenschaftler*innen dazu motiviert, das Rückgrat ozeanischer Forschung zu werden. Mein erster Eindruck war: eine brennende Neugier auf alles, was entdeckt werden kann. Das kenne ich von sehr jungen Menschen, die täglich staunend durch die Welt gehen. Sind Wissenschaftler*innen also im Grunde ewige Kinder?

Ein wenig Wahrheit ist in diesem Vorurteil sicherlich enthalten. Wer sonst sollte den Geheimnissen dieser Welt in kleinteiligen, komplexen und aufwendigen Studien auf den Grund gehen, wenn nicht Menschen, die sich ihre Neugier bewahrt haben. Jedoch liegt in dieser Art der Neugier auch etwas sehr Erwachsenes. Die wissenschaftliche Neugier, der ich täglich begegne, ist zielgerichtet. Sie ist über Jahre hinweg fokussiert und muss sowohl Durchhaltevermögen besitzen als auch mit Rückschlägen – vielen Rückschlägen – zurechtkommen.

Denn auch das ist eine Realität der wissenschaftlichen Welt – der Leistungsdruck ist hoch, die Arbeitszeiten sind lang. Und wenn etwas passiert, sagen wir eine Pandemie, die Forschungsexpeditionen unmöglich macht, kann es plötzlich zu gravierenden Problemen mit der Datenlage kommen. Dann müssen Wissenschaftler*innen mit Frustration und Angst um die eigene Forschung und Zukunft umgehen. Wissenschaft wird vorangetrieben von Personen, die über viele Jahre hinweg mit anhaltender Leidenschaft in spezifische Fragestellungen eintauchen und sich all diesen Herausforderungen stellen. Die bereits gesetzt zu scheinendes Wissen oder Selbstverständlichkeiten, selbst bei der banal wirkenden Wahl der Nudeln, beständig hinterfragen. Und ja, die soziale Vernetzung ist dabei ein wichtiger Rückhalt und ein starker Motivator.

Nach meinen ersten Wochen unter Wissenschaftler*innen wird mir klar: Wissenschaft ist gar nicht so distanziert wie ich dachte, sie verbindet! Die Menschen untereinander, aber auch so zusammenhanglos erscheinende Themen wie Ozeanforschung und Nudeln. Ich lerne, dass Wissenschaftler*in zu sein, sich genauso auf die Arbeit wie auf den Alltag erstreckt. Dass die Eigenschaften, die viele Forschende hier zu Forschenden machen, nicht einfach nach Feierabend aufhören. Und vor allem, dass meine Vorurteile über Wissenschaft und die Menschen darin zwar in einigen Aspekten zutreffen können, im Grunde aber starken Überholungsbedarf haben. Was nun übrigens die ausführlich diskutierte Frage nach der richtigen Nudel betrifft: Es gab keinen klaren Sieger. Denn auch das ist wieder Teil der Wissenschaft – nicht immer sofort auf alles eine klare Antwort zu haben.


Autorin: Ann Kristin Montano

Ehemalige Wissenschaftlerin, die lange genug in anderen Bereichen gearbeitet hat, um Klischees über Wissenschaftler*innen aufzubauen. Arbeitet jetzt gern unter Wissenschaftler*innen, um die Klischees wieder abzubauen. Hat außerdem zu Hause ein eigenes kulinarisches Experiment mit Teigwaren aus Hartweizengrieß begonnen. Wird darüber nicht hier berichten, dafür aber regelmäßig über Ozeanforschung und die Menschen dahinter.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *